Die heißen Quellen waren es, die seit dem Ende des 8. Jahrhunderts Karl den Großen veranlassten, Aachen zu seiner bevorzugten Winterpfalz zu wählen und zunehmend auch zur faktischen Residenz auszubauen. Von dieser karolingischen Pfalz sind heute noch große Teile erhalten und gut zu erkennen: so der achtund sechzehneckige Zentralbau der Marienkirche, die Karl bei seiner Pfalz errichten ließ, oder das heutige Rathaus, das in seinen Fundamenten und Ausmaßen mit der einstigen Königshalle identisch sein dürfte.
Als faktische Residenz mit ihren Reichsversammlungen und Synoden, mit ihrem vielfältigen politischen und kulturellen Leben ist Aachen unter Karl und seinem ersten Nachfolger zu einer Art Hauptstadt Europas geworden: nicht im Sinne einer modernen Kapitale, sondern im mittelalterlichen Verständnis als "curia regalis" bzw. als "prima sedes Franctiae". Von hier aus wurde das frühmittelalterliche Europa entscheidend geformt: als eine lateinisch-westliche Wirklichkeit, als ein agrarisches und christliches Zeitalter, als eine Wiederbelebung des lateinischen Schrifttums sowie als ein belegbarer Beginn mancher europäischen Muttersprache, der "lingua rustica Romana" genauso wie der germanisch-fränkischen Sprache, der "lingua theodisca". Der hier geschaffene lateinische Westen blieb weitgehend Grundlage und Rahmen für die spätere Entwicklung der europäischen Welt, für deren staatlich-politische Ausformung in Nationen und Nationalstaaten genauso wie für deren geistig-kulturelle Ausrichtung eines spezifisch okzidentalen Welt- und Lebensverständnisses.
Insofern steht Karl der Große zu Recht am Anfang von Aachens europäischer Bedeutung. Diese besondere Rolle haben bereits die Zeitgenossen Karls gespürt, als sie ihm schon bald eine historische Größe zusprachen und ihn den Vater Europas nannten. Dieses Einmalige und Besondere von Karls geschichtlicher Leistung hat die wissenschaftliche Erforschung seines Lebens und seiner Persönlichkeit bestätigt, wenn auch manche Grenze, manches Unfertige und Brüchige in diesem gewaltigen Lebenswerk sichtbar geworden ist. Trotz dieser Einschränkung wird es das Verdienst dieses großen Karolingers bleiben, dem europäischen Mittelalter und lateinischen Westen, insbesondere in Frankreich und Deutschland, den politischen wie kulturellen Weg gewiesen und damit die Grundlegung Europas mitgestaltet zu haben. Von daher beruft sich der Karlspreis zu Recht auf diesen Gründungsvater.
Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass die Grenzen des damaligen Karlsreiches die Briten und Spanier ausschlossen, ja sogar einen Teil der späteren Deutschen, d. h. die Bewohner jenseits der Elbe genauso ausklammerten wie alle Slawen und Nordeuropäer. Eine solche Ein- und Ausgrenzung greift aber selbst historisch zu kurz, weil man beachten muss, dass die für Europa entscheidende Begegnung von Antike, Christentum und Germanentum bereits in der Zeit der Völkerwanderung vorbereitet wurde und diese frühmittelalterliche Verbindung beispielsweise in England eine angelsächsische Kultur und Kirche geschaffen hatte, die deren Missionare dann wenig später von der Insel auf den Kontinent übertrugen. Ohne den Northumbrier und Friesenapostel Willibrord, ohne Winfried Bonifatius als christlichen Baumeister Europas, ohne den Yorker Universalgelehrten Alkuin, der hier in Aachen zu einem fahrenden Vertreter von Karls Hofschule und zu einer Art "Kultusminister" des Frankenreiches wurde, ist das geschichtlich so grundlegende Werk der Karolinger weder zu erklären noch zu verstehen.
Der Name und die Quellen
Bereits von ihrem Toponym her ist die Stadt Aachen europäisch bestimmt. Während sie im Italienischen und Spanischen eine Namensform trägt ("Aquisgrana" bzw. "Aquisgran"), die auf die lateinische Bezeichnung im Mittelalter ("Aquisgrani") zurück geht und die auf einen keltischen Heilgott Grannus hinzudeuten scheint, wird sie im französischsprachigen Raum unter Bezug auf die Aachener Marienkirche (den heutigen Dom) "Aix-la-Chapelle" genannt. Wie bereits diese romanischen Versionen, so verweisen ebenfalls der deutsche Name "Aachen" oder das niederländische Äquivalent "Aken" auf die besondere Bedeutung des Wassers und der heißen Quellen.
Mittelalterlicher Krönungsort
ls in der weiteren Karolingerzeit während des 9. Jahrhunderts die Bedeutung der Aachener Pfalz zurück ging, war es die dortige Marienkirche (der heutige Dom), in der die Kontinuität des Ortes am stärksten erhalten geblieben ist. Hier nämlich ließen sich aus Reverenz vor Karls des Großen Thron und Grab seit 936 mehr als 30 deutsche Konige des Mittelalters krönen, hier wurde 1002 Kaiser Otto III. beigesetzt.
Und hier hat schließlich Kaiser Friedrich I. Barbarossa 1165 seinen fernen Vorgänger heiligsprechen lassen. Bei dieser Kanonisation sind die Gebeine Karls feierlich erhoben und ein halbes Jahrhundert später in jenen kostbaren Karlsschrein gelegt worden, der sich heute in der spätgotischen Chorhalle des Doms befindet. Letztere ist auch immer wieder mit wertvollen Geschenken der deutschen Könige und Kaiser bedacht worden, so etwa mit dem Lotharkreuz Ottos III., mit dem Goldaltar und der Evangelienkanzel Heinrichs II., mit dem Barbarossaleuchter oder auch mit der Karlsbüste Karls IV. Auch verschiedene Reichsinsignien wie die Stephansburse oder das Reichsevangeliar wurden in dieser bedeutenden Kirche des Reiches aufbewahrt.
Haupt des mittelalterlichen Reiches
eben Marienkirche und Pfalz sowie einigen Wirtschaftshöfen, die fur deren materielle Versogung zuständig waren (vgl. neben dem Aachener Haupthof die Nebenhöfe in Seffent, Richterich, Orsbach, Vaals, Würselen, Haaren und Eilendorf), gehörte zum frühmittelalterlichen Aachen auch eine kleine Siedlung, die seit dem 1. Jahrhundert als römisches Militärbad mit Thermenanlagen entstanden war und die sich in der Karolingerzeit nach langer Unterbrechung zu einem Ort von Handwerkern und Kaufleuten mit einem Markt und adligen Unterkünften entwickelt hatte.
Zwischen dem Frühund Hochmittelalter ist allerdings über diesen "vicus Aquensis" wenig bekannt, bis er dann 1166 anlässlich der Heiligsprechung Karls des Großen durch Friedrich I. Barbarossa zum Haupt des Reiches ("caput regni Theutonici") erhoben, seine Einwohnerinnen und Einwohner für frei erklärt und die bürgerliche Gemeinde mit einem großen Markt- und Münzrecht bedacht wurden. Diese Barbarossastadt mit einer offensichtlich steigenden Bevölkerungszahl erhielt in den 70er Jahren des 12. Jahrhunderts eine sie umfassende Mauer, die noch heute in Resten erhalten bzw. in ihrem Verlauf erkennbar ist. An dieser Barbarossamauer bildeten sich bald danach einzelne Vororte und Kirchen (St. Adalbert, St. Peter, St. Jakob), die ihrerseits dann seit der Mitte des 13. Jahrhunderts zu einer zweiten und größeren Ummauerung mit dem heutigen Marschierund Ponttor führten.
Europäische Pilgerstätte
Zu dieser städtischen Entwicklung hatten nicht nur der Wasserreichtum des Aachener Beckens oder auch der Tuchhandel und die Messingund Kupferverarbeitung beigetragen, sondern vor allem die europäischen Pilgerfahrten zu den großen Aachener Heiligtümern: zu dem Kleid Mariens, den Windeln und dem Lendentuch Christi und dem Enthauptungstuch des hl. Johannes. Diese aus dem Reliquienschatz Karls des Großen entstandene Heiligtumsschau führte vor allem Pilgerinnen und Pilger aus den Balkanländern aus Ungarn, Slowenien und Kroatien nach Aachen, aber auch aus Polen und Böhmen sowie aus dem Nordund Ostseeraum.
Aachen wurde zum bedeutendsten Pilgerziel nördlich der Alpen und häufig auch zur Sammelbzw. Zwischenstation auf dem Wege nach Santiago di Compostela. Seit der großen Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts wurde die feierliche Zurschaustellung (Weisung) der kostbaren Reliquien auf eine bestimmte Zeitfolge festgelegt und alle 7 Jahre (vgl. das Aachener Sabbatjahr) wiederholt. In der Zwischenzeit bewahrte man die verehrten Heiligtümer in dem 1238 fertiggestellten Marienschrein auf, einer Spitzenleistung der Aachener Goldschmiedekunst.
Stadt der Bürger
Die wirtschaftliche Blüte des hochmittelalterlichen Aachen bestimmte auch das Selbstbewusstsein seiner Bürgerinnen und Bürger. Als sie um die Mitte des 13 Jahrhunderts ihr Bürgerhaus, das ältere Rathaus am Fischmarkt, errichteten, schmückten sie dessen Fassade mit einem noch heute erhaltenen Schriftband und wählten dafür als Text die Anfangsworte der um 1200 entstandenen Karlssequenz, die bis in unsere Tage an jedem Karlsfest und bei jeder Verleihung des Karlspreises gesungen wird: "Urbs aquensis, urbs regalis, regni sedes principalis" ("Aachen, du königliche Stadt und erster Sitz des Reiches").
Ähnlich selbstbewusst schufen sie im 14. Jahrhundert auf den Fundamenten der alten karolingischen Königsaula ihr neues Rathaus, dessen nördliche Schauseite sie dekorativ ausgestalteten und dessen vorgelagerten Platz mit seinen vornehmen Patrizierhäusern sie zum Hauptmarkt machten. Im Kaisersaal dieses neuen, jetzt mehrgeschossigen Stadthauses fand wohl seit der Aachener Krönung Karls IV. 1349 auch das nach der Thronerhebung übliche Festmahl statt, so dass Aeneas Piccolomini, der spätere Papst Pius II. (145864), mit gutem Grund dieses monumentale Bauwerk der Stadt Aachen als das "palatium tota Germania nobilissimum", als den vornehmsten Palast von ganz Deutschland bezeichnen konnte. Dessen spätmittelalterlicher Figurenschmuck mit seinen Heiligen und Herrschenden ist im 18. Jahrhundert dem barocken Zeitgeschmack gewichen, um dann im späteren 19. Jahrhundert seinerseits neugotisch umgestaltet zu werden. Dieses heutige ikonographische Programm verbindet in seinen Königsund Kaiserstatuen sowie in seinen fürstlichen Adelswappen die politische Idee des alten Reiches mit den Künsten und Wissenschaften des Mittelalters bzw. den wichtigsten handwerklichen und gewerblichen Zünften der vormodernen Welt.
In dieser alten Welt war die Stadt Aachen am Ende des Mittelalters jedoch auf Grund der allgemeinen europäischen Entwicklung in eine schlimme Isolation geraten. Der politische Schwerpunkt des Reiches hatte sich nach Süden und Südosten verschoben und zum Westen hin entfaltete sich der burgundische Staat. Wegen der fehlenden großen Verkehrswege in Form von Flüssen oder geeigneten Handelsstraßen fand man zudem keine Verbindung zur Hanse und verlor schließlich eine zentrale Rohstoffquelle für die bisher bedeutende Messingherstellung den stadtnahen Galmeiberg, der an die Burgunderherzöge fiel. Hinzu kamen im frühen 16. Jahrhundert die Reformationswirren, die in Aachen mit wechselnden Konstellationen 90 Jahre andauerten und zahlreiche Glaubensverfolgte aus den benachbarten Niederlanden in die Stadt führten. Erst 1614 wurde durch die spanischen Truppen der alte Glaube und politische Zustand wieder hergestellt, woran noch heute die damals geschaffene barocke Karlsfigur auf dem Rathausbrunnen erinnern kann.
In den Glaubenskämpfen und während des 30jährigen Krieges war das mittelalterliche Aachen weitgehend verschont geblieben, bis 1656 90% der städtischen Bausubstanz einem verheerenden Stadtbrand zum Opfer fiel. "O großer Karl, wie ist vom Thron / der Schönheit deine Stadt gesunken, / vom Aschenstaub verdeckt und Funken" mit diesen und weiteren Versen betrauerte der niederlandische Dichter Jost van den Vondel die Zerstörung der spatgotischen Stadt, von der nur wenige Bauten die Brandkatastrophe überstanden und die Zeiten überdauert haben. Zu diesen wenigen zählen das heutige Haus Löwenstein am Markt oder auch der Backsteinbau des heutigen Zeitungsmuseums in der Pontstraße, die damit zu den ältesten Bürgerhäusern Aachens gehören.
Barockes Badezentrum
"Was (jedoch) das Feuer zerstört hatte, musste das Wasser wieder aufbauen" nach diesem Motto des Aachener Brunnenarztes Franz Blondel entwickelte sich Aachen nach dem großen Stadtbrand 1656 in der frühen Neuzeit zu einer beliebten Badestadt. Grundlage für diese neue Prosperität war die balneologische Erschließung des Aachener Wassers, das man therapeutisch zu verwerten begann.
Aus Aachen wurde eine Barockund Rokokostadt, die sich unter der Führung bedeutender Baumeister wie des älteren Johann Josef Couven und seines Sohnes Jakob Couven auch baulich verwandelte. Nicht nur Dom und Rathaus erhielten eine barocke Note, sondern auch an vielen anderen Stellen und Plätzen der Stadt sind entsprechende Zeugnisse zu greifen: so in Burtscheid die ehemalige Abteikirche St. Johann, die von dem älteren Couven zu einem mächtigen barocken Kuppelbau umgebaut wurde, oder so auch das Haus Monheim am Hühnermarkt (das heutige Couven Museum), das der jüngere Couven schuf. Auf letzteren geht auch das "Alte Kurhaus" an der Komphausbadstraße zurück, das als ehemalige Redoute im Zentrum des damaligen Badelebens stand.
Als ein europäischer Höhepunkt aus dieser Phase der Aachener Geschichte wird der Friedenskongress von 1748 am Ende des österreichischen Erbfolgekrieges angesehen, auf dem die damaligen Großmächte ihre Gegensätze zu regeln versuchten: England, Frankreich und Spanien ihre kolonialen Probleme bzw. Österreich die Frage der Pragmatischen Sanktion über die Erbfolge Kaiserin Maria Theresias sowie die Sicherung der habsburgischen Großmachtstellung. Noch heute zeugen im Aachener Rathaus der vom älteren Couven entworfene Friedenssaal sowie der dortige Weiße Saal mit den Gemälden der damaligen Gesandten von dem Versuch dieser europäischen Friedenslösung, die jedoch schon wenig später unter der Gewalt der Waffen im Siebenjährigen Krieg dem österreichisch-preußischen Dualismus sowie im überseeischen Kolonialkrieg dem englisch-französischen Gegensatz wieder geopfert wurde.
Franzosenzeit
Zwischen dem Aachener Friedenskongress von 1748 und jener zweiten wichtigen Fürstenversammlung von 1818, die die Herrscher von Österreich, Russland und Preußen in Aachen zusammenführte und die Grundlinien der europäischen Politik des frühen 19. Jahrhunderts festlegen ließ, liegt für die Stadt Aachen ihre französische Phase. 1794 hatten die Armeen der Französischen Revolution Aachen besetzt und mitsamt dem linken Rheinufer mit Frankreich vereint. Aachen wurde Hauptstadt des den Niederrhein umfassenden RoerDepartements sowie 1802 erstmalig Bischofssitz und Bistum.
Einbezogen in die Wirtschaft des französischen Reiches und gefördert von dessen Kaiser Napoleon I., der die Stadt Karls des Großen besonders schätzte, erlebte die Aachener Region eine ungeahnte wirtschaftliche Blütezeit: Die Währung, die Maße und Gewichte wurden vereinheitlicht, die Gewerbefreiheit eingeführt, der Zunftzwang aufgehoben, das Verkehrswesen verbessert und der Markt schließlich durch die Kontinentalsperre vor der englischen Konkurrenz geschützt. Die wichtigsten Produktionszweige des Bergbaus, der Eisenverhüttung und Metallverarbeitung, der Papierund Nadelfabrikation, der Tuchund Glasherstellung waren in einem einheitlichen Wirtschaftsraum zusammengefasst, der von Jülich, Düren und Stolberg über Monschau, Verviers und Eupen bis nach Lüttich reichte. All diese Gewerbe, insbesondere auch die Aachener Tuchmanufakturen, erwirtschafteten eine Prosperität, die in den zeitgenössischen französischen Statistiken oder in den allgemeinen Enzyklopädien der Zeit nachzulesen sind. Die alte fränkische Achse zwischen Paris und Aachen schien wieder aufzuleben eine Verknüpfung, an die noch heute im Ratssaal des Aachener Rathauses ein Porträt Karls des Großen (die Kopie eines DürerGemäldes) sowie die Bilder Kaiser Napoleons und seiner Gattin Josephine erinnern können.
Preußische Grenzstadt
Mit dem Wiener Kongress von 1815 wurden die Rheinlande in das Königreich Preußen einbezogen und Aachen zum Sitz einer preußischen Bezirksregierung gemacht. Aus dieser Zeit stammen im heutigen Aachen verschiedene Zeugnisse des preußischen Klassizismus: so etwa die Wandelhalle des Elisenbrunnens mit ihrer Rotunde und ihren dorischen Säulen, die nach Plänen des Berliner Baumeisters Karl Friedrich Schinkel gestaltet wurden, und so auch der Eingangsbereich des Stadttheaters, der mit seinem Säulenportikus und seinem Giebelrelief einem antiken Tempel nachempfunden ist und ebenfalls auf Schinkel zurückgeht.
Im westlichen Ausland Aachens entstanden 1831 die heutigen Grenzen zwischen den Niederlanden und dem neu gegründeten Königreich Belgien, so dass im Raum Aachen die preußische Rheinprovinz, die belgische Provinz Lüttich und niederländische Provinz Limburg aufeinander trafen, wobei die letztere als Herzogtum bis 1866 mit dem Deutschen Bund verknüpft blieb. Durch diese politische Neugliederung des Aachener Raumes verloren Stadt und Region ihr westliches Umland und ihre günstigen verkehrsmäßigen Anbindungen. Zudem drängte die technisch weitaus höherstehende englische Tuchindustrie auf den kontinentalen Markt und brachte mit ihren preisgünstigen Produkten die Aachener Herstellenden in arge Verlegenheit. Dieser bedrückenden wirtschaftlichen und auch sozialen Lage ließ sich langfristig nur mit entsprechenden industriellen Strukturmaßnahmen beikommen, die den Aachener Wirtschaftsraum technisch mechanisierten und gewerblich förderten.
Im Zeichen der Frühindustrialisierung
Die Anfänge dieser Mechanisierung in Aachen, einer engen Verzahnung vor allem von Textilherstellung und Dampfmaschine reichen noch in die Franzosenzeit der Stadt zurück, werden aber jetzt kontinuierlich weiterentwickelt. Walkmühlen, Spinnund Schermaschinen werden von nun an mit Dampfkraft betrieben. 1834 waren es 78, 1849 mehr als 200 und 1859 schließlich gab es über 200 Dampfmaschinen, die man im Bezirk Aachen zahlte. Fur diese technologische Entwicklung zeichnen nicht zuletzt William Cockerill und seine Söhne verantwortlich, die die einschlägigen technischen Innovationen von England uber den wallonischen Lütticher Raum nach Preußen brachten und Aachen zu einem wichtigen Ort des damaligen Technologietransfers machten.
Auf diese Weise war bereits 1818/19 in Eschweiler die Maschinenfabrik Englerth, Reuleaux und Dobbs gegründet worden. Unter der Leitung des letzteren wurde wenige Jahre später die Lendersdorfer Hütte bei Düren aufgebaut, in der ein Eberhard Hoesch als einer der ersten in Deutschland das englische Verfahren der Stahlherstellung einsetzte. In Aachen schuf der genannte Samuel Dobbs 1832 zusammen mit dem Tuchfabrikanten Carl Franz Nellessen eine Maschinenfabrik, die für die Rheinische Eisenbahngesellschaft die erste in Preußen gebaute Lokomotive lieferte. Zu diesen wichtigen Zeugnissen der Aachener Frühindustrialisierung gehören auch die erste Dampfkesselfabrik Deutschlands, die 1833 der aus dem belgischen Jupille stammende Jacques Piedboeuf in Aachen errichtete, oder das Walzund Hammerwerk in Aachen Rothe Erde, das dieser Piedboeuf 1845 zusammen mit Hubert Jakob Talbot auf den Weg brachte.
Bereits einige Jahre vorher hatte Talbot 1838 in Zusammenarbeit mit dem aus Brüssel kommenden Postkutschenfabrikanten Pierre Pauwels eine EisenbahnwagenBauanstalt geschaffen, die erste deutsche Waggonfabrik, die wie die anderen genannten Industriebetriebe von dem Bau der rheinischen Eisenbahn profitierte, deren Linie KölnAachen als Teilstück der Strecke nach Brüssel und Paris bzw. nach Antwerpen und London bereits 1841 eröffnet werden konnte. Dass die Trasse überhaupt über Aachen geführt wurde, ist dem damaligen Präsidenten der Aachener Handelskammer und späteren kurzzeitigen Finanzminister in Preußen, David Hansemann, zu verdanken. Bei dessen weiteren Aachener Aktivitäten wie der Gründung der heute noch bestehenden Feuerversicherung oder der Schaffung entsprechender Einrichtungen der Sozialfürsorge werden auch in Aachen die Schattenseiten jener frühen industriellen Entwicklung in Europa greifbar soziale Defizite, die Hansemann und manche andere Aachener aus christlicher und gesellschaftlicher Verantwortung zu beheben suchten und die da heißen: Kinderund Frauenarbeit, finanzielle Not und menschliches Leid, kurz eine Verelendung der Arbeiterschaft.
Wirtschaftliche Lage Ende des 20. Jahrhunderts
Vergleicht man mit dieser Frühzeit von Technik und Industrie die heutige wirtschaftliche Lage Aachens, dann ergeben sich interessante Entwicklungslinien. Die Aachener Tuche, für die einst in dieser Stadt der erste deutsche mit Dampf betriebene Webstuhl aufgestellt wurde und die um die Jahrhundertwende und später auf dem Weltmarkt bedeutend waren, werden heute nur noch in wenigen Betrieben produziert, die aber ihrerseits immer noch einen großen Anteil der deutschen Tuche und Kleiderstoffe herstellen. Die traditionelle Nadelindustrie ebenfalls ein altes Aachener Gütesiegel hat sich inzwischen auf Maschinennadeln spezialisiert und soll hier fast die Hälfte des Weltbedarfs herstellen. Das einst größte Thomasstahlwerk, das Hüttenwerk Rothe Erde, mit zeitweise 7000 Beschaftigten, wurde nach dem Ersten Weltkrieg stillgelegt und ist jetzt durch große Zweigniederlassungen einer Reifenfirma und eines Elektrokonzerns ersetzt. Trotzdem arbeiten innerhalb des produzierenden Aachener Gewerbes immer noch die meisten Menschen in den Betrieben der Metallerzeugung sowie des Stahl, Maschinenund Fahrzeugbaus. Erst danach folgen die anderen Produktionsbereiche wie Elektrotechnik oder Chemie. Die für Aachen lange Zeit so charakteristische Textilund Glasbranche stellt heute nur noch einen 10%igen Anteil in der Gesamtzahl der Beschäftigten der produzierenden Gewerbe.
Zudem wird die immer noch starke industrielle Basis des Aachener Wirtschaftsraumes von der zunehmenden Bedeutung des Dienstleistungssektors verdrängt. Sich hier zu behaupten, heißt deswegen die regionale Industriestruktur ständig zu modernisieren und weiter zu diversifizieren. Die nötigen Impulse kann hierzu nicht zuletzt die Technische Hochschule Aachen liefern, die vor bald 125 Jahren 1870 als erste Polytechnikumsgründung in Preußen und in dessen frühindustrialisierter Rheinprovinz von den Aachenern in Stadt und Wirtschaft geschaffen wurde und heute zu einem Aushängeschild ihrer wirtschaftsfreundlichen Stadt sowie in der europäischen Hochschullandschaft geworden ist. Dazu tragen die wissenschaftliche Kompetenz der RWTH Aachen in Forschung und Lehre genauso bei wie die vielen europäischen und anderen ausländischen Studierenden oder auch das moderne Klinikum, das im euregionalen Raum als medizinisches Hochleistungszentrum gilt. Schließlich bietet der Europäische Binnenmarkt weitere wichtige Ansätze und Chancen der wirtschaftlichen Entfaltung.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges galten die Region und die Stadt Aachen nicht nur als stark zerstörte Siedlungsgebiete der alten Bundesrepublik, sondern waren zudem von den belgischen und niederländischen Nachbarn durch die dicht geschlossenen Grenzen weitgehend abgeschnitten. Aachen war damit wie schon öfters in seiner jüngeren Geschichte wieder Grenzstadt geworden bzw. geblieben. An dieser Randlage änderten der Wiederaufbau Deutschlands oder die besondere Förderung des Bergbaus nur wenig. Erst mit der Schaffung der EWG, später dann EG wurden diese Nachteile einer nationalen Grenzsituation zunehmend abgeschwächt. Die Grenzen wurden durchlässiger für Erwerbstätige von hüben und drüben, für entsprechende Firmenkooperationen und Zweigwerksgründungen, für die Wohnplatzwahl oder den Einkaufsund Freizeitverkehr.
Diese wirtschaftliche Vernetzung und menschliche Verknüpfung hat in der Schaffung einer Euregio Maas-Rhein ihren politischen und administrativen Ausdruck gefunden, der jetzt noch erweitert und vertieft werden dürfte, da nunmehr die einzelnen Teilregionen des Grenzraumes durch den Binnenmarkt in eine wirklich zentrale und damit höchst vorteilhafte Lage gelangen. Zwei Stunden vom Ruhrgebiet und Rhein bzw. vom Welthafen Antwerpen und vom eurokratischen Zentrum Brüssel entfernt oder in drei Stunden von Frankfurt im RheinMainGebiet bzw. von den niederländischen Seehäfen in Rotterdam und Amsterdam bzw. von dem nordfranzösischen Zentrum Lille erreichbar, erhalten Aachen, Lüttich und Maastricht wesentliche Standortvorteile, die die hiesige Region mit ihrem Ausbildungsund Technologiepotenzial, mit ihrem Wohnund Freizeitwert, mit ihrem hohen Erschließungsgrad, mit ihrer Mehrsprachigkeit zu einer europäischen Zentrallandschaft gestalten lassen und ihr jene Bedeutung verleihen könnten, die sie einst zur Zeit der Karolinger und Karls des Großen einmal besessen hat.
Autor und Literaturhinweise
Literaturempfehlungen
Die vorliegenden Ausführungen gehen in ihren historischen und euregionalen Passagen auf verschiedene Einzelstudien zu Aachens Geschichte und Gegenwart zurück. Für eine Einführung oder weitere Vertiefung seien deshalb einige von ihnen empfohlen:
Zur Geschichte Aachens und Karls des Großen
Erich Stephany: Aachen, in: Deutsche Lande Deutsche Kunst,
3. veränderte Aufl. Berlin 1983
Ludwig Falkenstein: Charlemagne et AixLaChapelle,
in: Byzantion. Revue Internationale des Etudes Byzantines 61
(1991), S.231289
Max Kerner: Karl der Große Persönlichkeit und Lebenswerk,
in: H. Müllejans (Hg.), Karl der Große und sein Schrein in
Aachen. Eine Festschrift, Aachen/Mönchengladbach 1988, S. 1336
Max Kerner: Karl der Große - Entschleierung eines Mythos,
Köln 2000Prägnante Übersichtsartikel
"Aachen" (von L. Falkenstein u. E. Meuthen) und
"Aachenfahrt" (von W. Brückner),
in: Lexikon des Mittelalters I, München/ Zürich 1980, Sp. 14Stadtführer
Ingeborg Monheim: Aachen, Ein Stadtführer, Aachen 1989
Euregionale Fakten
Die Wirtschaftsregion Aachen. Ein Grenzraum im Wandel,
hg. v. der IHK Aachen in Zusammenarbeit mit dem
MaasRheinInstitut für angewandte Geographie und Lehrerbildung,
insbes. H. Breuer, Aachen 1989
Gerhard Fehl, Dieter Kaspari Küffen, Lutz Henning Meyer (Hg.):
Mit Wasser und Dampf... Zeitzeugen der frühen Industrialisierung
im Belgisch Deutschen Grenzraum, Aachen 1991