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Rede zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine

Lieber Verein Ukrainer in Aachen,
liebe Bürgerinnen und Bürger,
liebe Freundinnen und Freunde,

vor einem Jahr hat uns die schreckliche Nachricht vom Überfall Russlands auf die Ukraine erschüttert und gezeigt, dass das, was wir für die Normen und Werte Europas gehalten haben, auf tönernen Füßen steht.

Seitdem ist unser Leben, ist unsere Welt eine andere. Der Glaube an immerwährenden Frieden in Europa hat sich als trügerisch erwiesen. Wir schauen fassungslos auf die Bilder von Kriegsverbrechen, von Völkerrechtsbruch, von unzähligen Tabubrüchen, bei denen die Schwächsten der Gesellschaft angegriffen werden, von unermesslichem Leid, das dieser Krieg für die Menschen in der Ukraine bringt. Ihnen allen gilt heute unsere Anteilnahme.

Liebe Freundinnen und Freunde in der Ukraine, die Welt schaut auf Euch. Ihr seid nicht vergessen. Der Angriff auf Euch ist ein Angriff auf uns. Uns eint die europäische Idee eines Lebens in Solidarität, in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Uns eint der Glaube, dass Unrecht niemals zu Recht wird, der Glaube, dass die Idee des Friedens größer ist als die des Krieges und die Überzeugung, dass die Unmenschlichkeit niemals die Menschlichkeit besiegen wird. Niemals.

Während sich unsere Eltern und Großeltern auf dem Schlachtfeld Europas gegenüberstanden, war es für meine Generation zur Selbstverständlichkeit geworden, in einer friedlichen, offenen und freien Welt zu leben. Einem zivilen und zivilisierten Europa, in dem Meinungsverschiedenheiten durch Abkommen und Verträge geregelt werden. Einer Welt, in der abgerüstet, statt aufgerüstet wird, in der das demokratische Staatssystem allen anderen überlegen ist. Weil es das Menschlichste ist.

Diese Selbstverständlichkeit bekam bereits beim Jugoslawien-Krieg, im Nahost-Konflikt, bei den niedergeschlagenen friedlichen Revolutionen und vielen anderen globalen Konfliktherden Risse. Am 24. Februar wurde sie endgültig zerstört. Durch den barbarischen Akt eines Autokraten und inzwischen müssen wir leider auch sagen: durch den skrupellos geplanten Angriff eines ganzen Staatssystems auf sein souveränes, unschuldiges Nachbarland vor der Haustür Europas. Diese Situation überfordert uns alle.

Nun stehen wir fassungslos vor den Trümmern in Kiew, Mariupol, Charkiw und vielen anderen Städten. Chernihiv, unsere Solidaritätspartnerstadt in der Ukraine, die Aachen so ähnlich ist, ist zu 70 % zerstört. Das Leid der Menschen in der Ukraine ist unermesslich und es ist für uns schwer auszuhalten, hilflos zuzuschauen. Nach Schätzung der UNO waren seit Beginn der russischen Invasion ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung zur Flucht gezwungen, über 8 Millionen Menschen leben mittlerweile in europäischen Staaten als Geflüchtete, weitere 5,4 Millionen Menschen sind innerhalb des Landes geflohen. 13,4 Millionen zerstörte Träume, Hoffnungen, Pläne.

Auch wenn wir in Aachen wie ganz Europa fassungslos vor der Entwicklung waren, so waren wir nicht tatenlos. Wir standen zu unserem Versprechen, sicherer Hafen für Menschen aus Kriegsgebieten zu sein und haben bereits am 26. Februar die ersten ukrainischen Hilfesuchenden mit offenen Armen aufgenommen.

Die Hilfsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger war ergreifend. Aber auch Politik und Verwaltung engagierten sich aus voller persönlicher Überzeugung. Sehr schnell wurden wirksame Hilfsnetze gewoben, die bis heute tragen. Ich bin stolz auf unsere Stadt und die Menschen dieser Stadt, die ohne zu fragen ihre Türen und Arme weit geöffnet haben.

Viele von Euch sind heute hier und ich möchte von Herzen Danke sagen. Danke, dass ihr hingesehen und nicht weggesehen habt, dass ihr bis an und oft auch über eure eigenen Belastungsgrenzen gegangen seid. Danke, dass ihr seid, wie ihr seid. Dass ihr gezeigt habt, dass Menschen eben doch Menschen sein können, dass die Menschlichkeit in unserer Welt die Dunkelheit erhellt.

Stolz bin ich aber auch auf die europäische Gemeinschaft, die angesichts dieser massiven Bedrohung geeint dem Aggressor gegenübertritt und damit zeigt, dass uns inzwischen eben doch viel mehr eint als eine Wirtschaftsunion, dass wir uns zu einer wahren Werte-Union weiterentwickelt haben.

Ich bin stolz auf das ukrainische Volk, die Menschen, die seit einem Jahr jeden Tag kämpfen und ihr Leben aufs Spiel setzen, um ihr Land zu verteidigen und damit auch für die europäische Idee der Demokratie, des Friedens und der Freiheit kämpfen. Werte die uns in der europäischen Gemeinschaft einen.

Für diesen Mut und diese Entschlossenheit werden wir dem ukrainischen Volk und seinem Präsidenten in diesem Jahr den Karlspreis verleihen. Damit möchten wir aus Aachen ein Signal in die Welt senden, dass wir daran glauben, dass Menschlichkeit, dass die Demokratie am Ende siegen wird. Auch in diesen dunklen Zeiten. Auch im Iran, im Jemen, in Afghanistan, in Myanmar, in Syrien, in Belarus, in den ganzen Staaten, in denen sich die Diktatoren auf der Siegesstraße wähnen. Ihr werdet niemals siegen, weil Unrecht niemals Recht wird.

Wir sind eins, wir sind solidarisch, in Aachen und so vielen anderen Orten der Welt. Lasst uns nicht aufhören, den Finger in die Wunde zu legen und öffentlich für Frieden, Freiheit und Demokratie einzutreten. Frieden der Ukraine und Freiheit den unzähligen Unterdrückten.