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Karlspreisverleihung 2022

Sehr geehrte Damen und Herren Ich freue mich außerordentlich, Sie im Krönungssaal unseres Rathauses zu begrüßen und heiße Sie herzlich willkommen zur Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen 2022 an die belarussischen Bürgerrechtlerinnen, die inhaftierte Maria Kalesnikava, die heute vertreten wird durch ihre Schwester Tatsiana Khomich, Swetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo. Wir fühlen uns sehr geehrt, dass Frau Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bei uns in Aachen ist und die Laudatio für unsere Preisträgerinnen halten wird. Wir begrüßen die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Ihre Exzellenz, Frau Roberta Metsola und die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Bärbel Bas. Wir begrüßen den Präsidenten des Landtags Nordrhein-Westfalen, Herrn André Kuper.

Ein herzliches Willkommen gilt der vormaligen Preisträgerin, Frau Dr. Dalia Grybauskaitė, sowie den vormaligen Preisträgern Martin Schulz und Timothy Garton Ash.

Wir begrüßen die Vertreterinnen und Vertreter des Diplomatischen Korps, darunter auch Ihre Exzellenzen, die Botschafterinnen und Botschafter der Französischen Republik, der Republik Kroatien, der Republik Malta, der Italienischen Republik, der Republik Litauen, sowie den Deutschen Botschafter in Belarus.

Ein herzliches Willkommen auch an die vielen Vertreterinnen und Vertreter der Europäischen Union und der Europäischen Institutionen.

Wir begrüßen den Parlamentspräsidenten der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, Herr Karl-Heinz Lambertz, sowie die Damen und Herren Abgeordnete aus dem Europäischen Parlament, aus dem Bundestag und aus dem Landtag.

Wir freuen uns über die anwesenden Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften, unter Ihnen auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Herr Dr. Josef Schuster und Bischof Dieser.

Ein herzliches Willkommen auch Ihnen, Herr Ministerpräsident a. D. Jürgen Rüttgers und Herr Ministerpräsident a. D. Armin Laschet, Herr Minister Holthoff-Pförtner und Frau Ministerin Pfeiffer-Poensgen aus unserer Landesregierung.

Als das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises im vergangenen Herbst entschieden hat, diese drei herausragenden Persönlichkeiten auszuzeichnen, war die Welt noch eine andere ... Auch damals standen wir schon vor gewaltigen Herausforderungen – sei es durch die noch immer nicht überwundene Pandemie, den bedrohlich näherrückenden Klimawandel oder auch die Uneinigkeiten innerhalb der Europäischen Staatengemeinschaft, was ihre zukünftige Ausrichtung angeht ...

Mit der Vergabe des Internationalen Karlspreises 2020/2021 an Klaus Iohannis, einen “Mittler und Brückenbauer zwischen west- und osteuropäischen Gesellschaften”, wurde ein wichtiges Zeichen gesendet: Um dem gefährlichen Abdriften zu nationalem Denken vorzubeugen – um mit geeinter Stimme als Vorbild in einer immer uneinigeren Welt zu dienen – aber auch um die europäische Idee zu bewahren, die in den vergangenen Jahrzehnten alle möglichen Krisen, Rückschläge und Auseinandersetzungen überlebt hat.

Und genau dieser Gedanke – das Bewahren der europäischen Idee – steht im Mittelpunkt der diesjährigen Verleihung, die gleichzeitig eine Zäsur für den internationalen Karlspreis an sich darstellt.
Denn zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde eine europäische Bewegung aus dem Volk ausgezeichnet, die Widerstand gegen ein autokratisches System leistet. Mit der mutigen und politischen Entscheidung, die belarussische Opposition auszuzeichnen, mischt das Direktorium sich ein und ergreift eindeutig Partei: Für ein Europa der Freiheit und der Demokratie. In der Proklamation von 1949 heißt es:
“Da die Fortschritte der Menschheit immer von einzelnen genialen Persönlichkeiten ausgegangen sind, die sich trotz aller Widerstände ganz ihrer Idee hingegeben haben, muß es nützlich und förderlich sein, auf diese Männer als Vorbilder hinzuweisen, zur Nachahmung und zur Verwirklichung ihrer Ideen aufzufordern.”

Es ist damit also ganz sicher im Sinne der Gründerväter, dass der Internationale Karlspreis vor allem ein Zeichen der Solidarität und Unterstützung für Maria Kalesnikava, Swetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo und ihr Wirken sein soll.
Denn diese drei Frauen treten mit unzähligen anderen in Belarus “trotz aller Widerstände” für das ein, “was den Kern des europäischen Projektes ausmacht: Menschenrechte, Frieden und Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Solidarität.”

Wie es in der Begründung weiter heißt, soll mit der Verleihung aber auch “das Signal an eine ermüdende europäische Gesellschaft verbunden sein, wieder überzeugt und kämpferisch für die in Jahrhunderten erstrittenen europäischen Werte einzutreten, die heute in der weltweiten Auseinandersetzung um Profit und Vorherrschaft, aber auch durch den Gleichmut vieler Bürgerinnen und Bürger selbst gefährdet sind.”

Der Karlspreis ist eine Würdigung ihres mutigen Einsatzes für die Überwindung von Diktatur und für einen demokratischen Aufbruch in Belarus ...
Zugleich eine Erinnerung, ein Aufruf, eine Mahnung – an uns alle. Eine Erinnerung! an das, was wir in Europa bereits erreicht haben.
Ein Aufruf!, sich auf unsere gemeinsamen Werte zu besinnen und für sie einzustehen. Eine Mahnung!, wachsam zu sein und für Freiheit und Demokratie zu kämpfen ... Und uns nicht auf dem Status Quo auszuruhen.

Denn, wenn wir ehrlich gegenüber uns selbst sind, haben wir genau das getan. Nach über 75 Jahren, in denen wir in einem immer freieren, immer offeneren Europa in Frieden leben durften, in denen Entbehrungen beständig ab – und Wohlstand in gleichem Maße zugenommen haben – kurz: in denen “alles immer besser” wurde – ist das wahrscheinlich allzu menschlich. Sich nicht bewusst zu machen, welche Freiheiten und Privilegien wir jeden Tag genießen.
Sich nicht zu fragen, wie wir eigentlich miteinander leben wollen – sei es in der Stadt, dem Land, Europa oder letztlich der ganzen Welt.

Man kann sagen: Als das Direktorium im vergangenen Herbst diese weitsichtige und richtige Entscheidung getroffen hat, bestand für die meisten Menschen in Europa schlicht keine Notwendigkeit, sich überhaupt solche Gedanken zu machen. Weil es ihren Alltag nicht betroffen hat. Weil es, wie eingangs erwähnt, genügend andere Herausforderungen zu meistern galt.
Vor allem aber, weil dem Leben, wie wir es kennen, keine konkrete Gefahr drohte.

Das alles hat sich durch den brutalen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine schlagartig geändert. Während wir uns in Westeuropa in trügerischer Sicherheit wähnten, waren die Sensoren der Menschen in Osteuropa bereits viel früher alarmiert. Heute ist Krieg in Europa. Demokratie ist eben keine Selbstverständlichkeit, sie muss jeden Tag neu erstritten und verteidigt werden.

In autokratischen Staaten ist die Zivilgesellschaft ein wichtiges Gegengewicht: den mutigen Kräften, die gegen Willkür, Unterdrückung und Verletzung der Menschenrechte eintreten, möchten wir den heutigen Preis widmen und sie für den Moment mit unseren Möglichkeiten in den Fokus der internationalen Öffentlichkeit heben.
Maria Kalesnikava, Swetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo sind ein Licht in dunklen Zeiten. Ihre Gesichter und ihre Namen stehen für zahllose Menschen, die in vielen Ländern dieser Welt auch gerade in diesem Moment um ihre Werte, ihr Leben und ihre Zukunft kämpfen und unvorstellbaren staatlichen Repressionen unterworfen sind.
Diese Menschen brauchen unsere Unterstützung.

Mehr denn je. Seit dem zweiten Weltkrieg und insbesondere nach Ende des Kalten Krieges erleben wir einen Siegeszug der Demokratie. Trotzdem sehen wir derzeit ein neues Erstarken autokratischer Systeme auf der Welt.
Wir bekommen jeden Tag auf erschütternde Weise vor Augen geführt, dass es Kräfte auf dieser Welt gibt, die unsere Werte nicht teilen. Anstelle von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit setzen sie auf staatliche Willkür, Unterdrückung und die Verletzung elementarer Menschenrechte. Sie sind sogar bereit, ohne jede rechtliche Grundlage ein Land anzugreifen – nur, weil dessen Volk sich entschieden hat, einen anderen, einen eigenen, einen selbstbestimmten Weg zu gehen.

Sie richten damit auch eine unverhohlene Drohung an all jene, die einen ähnlichen Weg wie die Ukraine beschreiten wollen.

Für uns alle gilt es zu begreifen, dass es sich bei diesem Krieg um wesentlich mehr als die Auseinandersetzung zweier Staaten handelt.
Was zur Zeit in der Ukraine und damit in unmittelbarer Nachbarschaft der Europäischen Union – direkt vor unserer Haustür – geschieht und unerträgliches Leid über die Menschen bringt, ist eine sehr konkrete Gefahr für das Leben, so wie wir es kennen.

Nichts weniger als unser aller Freiheit wird hier angegriffen.

Die Demokratie-Bewegung in Belarus wird massiv unterdrückt. Führende Köpfe bekamen lange Haftstrafen. Anderen blieb nur der Weg ins Exil. Und doch gelang es Maria Kalesnikava, Swetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo die Opposition zu einen und die Machthaber herauszufordern. Alexander Lukaschenko konnte mit Gewalt und Unterdrückung an der Macht bleiben. Dieses Mal … noch.

Aber am Ende werden Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung siegen.

Wir lernen von Belarus: Wenn wir unsere demokratischen Errungenschaften bewahren wollen, muss jede und jeder Einzelne von uns bereit sein, dafür zu streiten.

In den Medien sehen wir täglich Bilder, die denen des zerstörten Europas nach dem Zweiten Weltkrieg erschreckend gleichen. Vor unserer Haustür ist Krieg.

Dieser Krieg verunsichert uns alle, es entsteht ein Gefühl von Machtlosigkeit, von Resignation – und großer Sorgen. Bei uns allen.

Auch ich mache mir große Sorgen um die Zukunft unseres Landes, unserer Kinder, Enkelinnen und Enkel.

Aber ich habe auch großes Vertrauen.

Vertrauen in uns, die Bevölkerung und die Regierungen Europas und unsere im Lauf der Jahre seit dem Zweiten Weltkrieg vielfach erprobte Bereitschaft, trotz aller Unterschiede gemeinsam Lösungen zu finden und für die europäische Idee einzutreten.

Wir können das.

Das beweisen wir nicht nur hier und heute in Aachen.

Es sind die Menschen hier vor Ort, die Europa täglich leben. Es sind genau diese Menschen, die auch in der aktuellen Situation zeigen, was Europa im Kleinen wie im Großen ausmacht. Die überragende Hilfsbereitschaft bei der Aufnahme der Schutzsuchenden aus der Ukraine, die überall gezeigte Solidarität und das Zusammenrücken der Europäerinnen und Europäer lassen mich darauf vertrauen, dass wir auch “im Großen” die noch vor uns liegenden Herausforderungen meistern werden.

Diese Form des “gelebten Europas” gibt uns in dieser Zeit Hoffnung. Vielleicht müssen wir uns wieder bewusster vor Augen führen, wie durch eine gemeinsame und immer wieder neu gestaltete Idee aus einem in unzählige Einzelinteressen zerstrittenen Kontinent im Lauf der Geschichte unser heutiges Europa gewachsen ist.

Immer mehr junge Menschen sind sich dessen offenbar bewusst und bringen sich tatkräftig und mutig in politische Prozesse ein. Ein nicht immer bequemer Weg, wie wir alle wissen. Sie haben längst erkannt, dass die demokratischen Systeme bedroht sind, nationalstaatliches Denken zurückkehrt, profitorientiertes Wirtschaftswachstum wie auch der Klimawandel ihre Zukunft bedrohen.
Sie engagieren sich aus absoluter Überzeugung. Weil sie erkannt haben, dass es sich lohnt, dass sie eben nicht machtlos sind – und weil sie ihre Zukunft aktiv gestalten wollen.

Auch das macht mir Hoffnung. Neben dem beeindruckenden “gelebten Europa” der Bürgerinnen und Bürger und dem Engagement der jungen Menschen sind es aber vor allem unsere heutigen Preisträgerinnen Maria Kalesnikava, Swetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo, die uns noch einmal auf ganz andere Art gezeigt haben, was ein jede und jeder Einzelne tun kann.

Von ihnen können wir lernen. Sie sind uns ein starkes Vorbild.

Bevor sie zu Heldinnen der Jetzt-Zeit und des politischen Kampfes wurden, waren die drei heutigen Leitfiguren der demokratischen belarussischen Opposition “ganz normale Bürgerinnen”. Sie haben sich engagiert, weil ihnen etwas wichtig ist, das wir alle mit ihnen teilen: Den Wunsch nach einem Leben in Freiheit.

Dieser Wunsch war so stark, dass sie “mit ihrem entschiedenen und furchtlosen Einsatz ... zu einem wichtigen Vorbild für den demokratischen Freiheitskampf nicht nur für hunderttausende Landsleute, sondern weit über die belarussische Grenze hinaus geworden sind”, wie es in der Begründung heißt. “Ihre Botschaften sind aufrüttelnd, ihre Opfer beispiellos. Sie sind das Signal an die eigene belarussische Gesellschaft, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen.“

In diesem Sinne möchte ich uns alle dazu ermutigen, auch unser Schicksal wieder stärker in die eigene Hand zu nehmen.

Wir brauchen gerade jetzt Persönlichkeiten wie Maria Kalesnikava, Swetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo – als Vorbild, als leuchtendes Beispiel, an dem wir uns orientieren können.

Und so können wir bei all dem Grauen und den Schrecken, den wir gerade erleben, doch auch Hoffnung schöpfen. Der Krieg hat auch zu einem neuen Reifegrad Europas geführt. Wir sind nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, wir sind eine wahre Wertegemeinschaft.
Nach dem Angriff auf die Ukraine wehten in ganz Europa ukrainische Flaggen an den Rathäusern, versammelten sich die Bürgerinnen und Bürger in großen Friedensdemonstrationen.

Die europäische Idee wird von den Menschen gelebt.

Es ist unsere Pflicht und Verantwortung – besonders den folgenden Generationen gegenüber – die Entscheidung darüber, wie wir leben wollen, niemand anderem zu überlassen.

Es liegt in unserer Hand.

Vielen Dank!