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Das Archivale des Monats April 2020...

  • … zeigt ein Flugblatt in dem die Stadt Aachen – scheinbar – die Verschiebung der Wahl wegen „höherer Gewalt“ bekannt gibt.
  • Dies sollte auf Grundlage des (nicht existierenden) „Bundeswahlkampfgesetzes“ und eines (ebenso fiktiven) Urteils des Bundesverfassungsgerichts erfolgen.
  • Fake: Waren linke Aktivisten dafür verantwortlich? Die Ermittlungen verliefen ergebnislos.

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© Stadt Aachen / Stadtarchiv

Am 25. Januar 1987 fand die Wahl zum 11. Deutschen Bundestag statt, zu welcher der amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl als Spitzenkandidat der CDU und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau für die SPD antraten. Aus der Wahl sollte Kohl trotz Stimmenverlusten als Wahlsieger hervorgehen, während die beiden kleinen Parteien FDP und insbesondere GRÜNE Zugewinne erzielten.

Unmittelbar vor der Wahl fanden die Bewohnerinnen und Bewohner mehrerer Aachener Stadtbezirke in ihren Briefkästen das abgebildete Flugblatt. Unterzeichnet von Stadtdirektor Heiner Berger, gab die Stadt Aachen darin – scheinbar – die Verschiebung der Wahl wegen „höherer Gewalt“ bekannt: Auf der Grundlage des (nicht existierenden) „Bundeswahlkampfgesetzes“ und eines (ebenso fiktiven) Urteils des Bundesverfassungsgerichts stelle „neben Meteoriteneinschlägen und Kernschmelze auch Schneefall“ einen Fall „höherer Gewalt“ dar. Daher werde die Wahl wegen des Winterwetters „auf den nächsten schneefreien Sonntag“ verschoben. Hinweise im Text machten es leicht, das Flugblatt als satirische Fälschung zu erkennen.

Aktionsform der anarchistisch geprägten Sponti-Bewegung

Linke Aktivisten hatten in Aachen während der 1980er- und 1990er-Jahre mehrmals gefälschte Flugblätter gedruckt und verteilt, um in politische Debatten einzugreifen – oft auch mit dem Hintergedanken, die Gegenseite zu einer entlarvend wirkenden Erwiderung zu zwingen. Diese Aktionsform griff das in den 1970er-Jahren von der anarchistisch geprägten Sponti-Bewegung praktizierte Konzept der „Spaßguerilla“ auf. Dieses grenzte sich sowohl von der Agitprop-Propaganda der kommunistischen Kleingruppen dieser Zeit als auch von militanten bis terroristischen Gruppierungen ab, die sich selbst als „Guerilla“ auffassten. Eine aktuelle Spielart der „Spaßguerrilla“ findet sich in den Känguru-Chroniken des Kabarettisten Marc-Uwe Kling.

 Das abgebildete Flugblatt nutzte das Mittel eines kalkuliert illegalen Handelns, um gleichsam nebenher den Ausbau der Atomenergiewirtschaft („Kernschmelze“), Umwelt- und Luftverschmutzung („Smog“) und die auch von bürgerlichen Stimmen damals oft beklagte Angleichung der politischen Bildsprache in Wahlkämpfen („Wahlplakate… bis zur Unkenntlichkeit entstellt“) zu thematisieren. Darüber hinaus wird die grundsätzliche Kritik am System der parlamentarischen Repräsentation deutlich, dem ein basisdemokratisches Selbstverständnis gegenüberstand. Vor diesem Hintergrund unterscheidet sich das Flugblatt von den heute als Mittel politischer Manipulation und Hetze eingesetzten Fake-News.

„Druckschriftenerkennungsdienstliches Gutachten“ beim Bundeskriminalamt

Stadtdirektor Berger erstattete in seiner Funktion als Kreiswahlleiter am 28. Januar 1987 Strafanzeige gegen die unbekannten Urheber des Flugblatts und übersandte eine Kopie des hier abgebildeten Exemplars an das Staatsschutz-Kommissariat des Polizeipräsidiums Aachen; außerdem erfolgte eine Berichterstattung an das Innenministerium des Landes NRW. Im Lauf der bis 1988 andauernden Ermittlungen forderte das Polizeipräsidium sogar ein „druckschriftenerkennungsdienstliches Gutachten“ beim Bundeskriminalamt an. Dieser verhältnismäßig hohe Aufwand ergab sich aus dem Umstand, dass es sich trotz der offenkundigen Ironie um einen Eingriff in eine demokratische Wahl handelte, die als „Wählertäuschung“ strafbar war. Die Ermittlungen verliefen ergebnislos.