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Karl der Große und die Pfalz

Karlsstatue im Aachener Rathaus (c) Stadt Aachen / Andreas HerrmannDie heißen Quellen waren es, die seit dem Ende des 8. Jahrhunderts Karl den Großen veranlassten, Aachen zu seiner bevorzugten Winterpfalz zu wählen und zunehmend auch zur faktischen Residenz auszubauen. Von dieser karolingischen Pfalz sind heute noch große Teile erhalten und gut zu erkennen: so der acht­ und sechzehneckige Zentralbau der Marienkirche, die Karl bei seiner Pfalz errichten ließ, oder das heutige Rathaus, das in seinen Fundamenten und Ausmaßen mit der einstigen Königshalle identisch sein dürfte.

Als faktische Residenz mit ihren Reichsversammlungen und Synoden, mit ihrem vielfältigen politischen und kulturellen Leben ist Aachen unter Karl und seinem ersten Nachfolger zu einer Art Hauptstadt Europas geworden: nicht im Sinne einer modernen Kapitale, sondern im mittelalterlichen Verständnis als "curia regalis" bzw. als "prima sedes Franctiae". Von hier aus wurde das frühmittelalterliche Europa entscheidend geformt: als eine lateinisch-­westliche Wirklichkeit, als ein agrarisches und christliches Zeitalter, als eine Wiederbelebung des lateinischen Schrifttums sowie als ein belegbarer Beginn mancher europäischen Muttersprache, der "lingua rustica Romana" genauso wie der germanisch-­fränkischen Sprache, der "lingua theodisca". Der hier geschaffene lateinische Westen blieb weitgehend Grundlage und Rahmen für die spätere Entwicklung der europäischen Welt, für deren staatlich-politische Ausformung in Nationen und Nationalstaaten genauso wie für deren geistig-kulturelle Ausrichtung eines spezifisch okzidentalen Welt­- und Lebensverständnisses.

Insofern steht Karl der Große zu Recht am Anfang von Aachens europäischer Bedeutung. Diese besondere Rolle haben bereits die Zeitgenossen Karls gespürt, als sie ihm schon bald eine historische Größe zusprachen und ihn den Vater Europas nannten. Dieses Einmalige und Besondere von Karls geschichtlicher Leistung hat die wissenschaftliche Erforschung seines Lebens und seiner Persönlichkeit bestätigt, wenn auch manche Grenze, manches Unfertige und Brüchige in diesem gewaltigen Lebenswerk sichtbar geworden ist. Trotz dieser Einschränkung wird es das Verdienst dieses großen Karolingers bleiben, dem europäischen Mittelalter und lateinischen Westen, insbesondere in Frankreich und Deutschland, den politischen wie kulturellen Weg gewiesen und damit die Grundlegung Europas mitgestaltet zu haben. Von daher beruft sich der Karlspreis zu Recht auf diesen Gründungsvater.

Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass die Grenzen des damaligen Karlsreiches die Briten und Spanier ausschlossen, ja sogar einen Teil der späteren Deutschen, d. h. die Bewohner jenseits der Elbe genauso ausklammerten wie alle Slawen und Nordeuropäer. Eine solche Ein- und Ausgrenzung greift aber selbst historisch zu kurz, weil man beachten muss, dass die für Europa entscheidende Begegnung von Antike, Christentum und Germanentum bereits in der Zeit der Völkerwanderung vorbereitet wurde und diese frühmittelalterliche Verbindung beispielsweise in England eine angelsächsische Kultur und Kirche geschaffen hatte, die deren Missionare dann wenig später von der Insel auf den Kontinent übertrugen. Ohne den Northumbrier und Friesenapostel Willibrord, ohne Winfried ­Bonifatius als christlichen Baumeister Europas, ohne den Yorker Universalgelehrten Alkuin, der hier in Aachen zu einem fahrenden Vertreter von Karls Hofschule und zu einer Art "Kultusminister" des Frankenreiches wurde, ist das geschichtlich so grundlegende Werk der Karolinger weder zu erklären noch zu verstehen.